Entmenschung

Zum tausendsten Mal seit Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahre 1976 wurde Ende 2005 ein Mensch im so genannten Land der Menschenrechte vorsätzlich mit Gift zu Tode gespritzt. Eine andere Regelung schien den mit dem Fall befassten Menschen nicht möglich. 

Der verurteilte Mensch war schuldig befunden worden, zwei Menschen, seine ihm entfremdete Frau und deren Vater, im Jahre 1988 erschossen zu haben. Zwei junge Menschen, seine Kinder, waren dabei gewesen. Der Mensch hatte erklärt, seine Tat zu bereuen.


AP (bearbeiteter Ausschnitt)

Die Verteidigermenschen hatten geltend gemacht, dass die Kriegserlebnisse des Menschen – er war ein Kriegsveteran - eine mentale Instabilität ausgelöst hätten. Die von Regierungsmenschen verordnete Teilnahme am Vietnamkrieg habe den Menschen nach einer ehrenvollen Entlassung beschädigt zurückgelassen. Der Mensch sei zur Tatzeit depressiv und alkoholisiert gewesen. Unter dem Kreuz seiner traumatischen Erfahrungen - eine öffentliche Aufarbeitung des Kriegsdramas hatte nicht stattgefunden - und durch unglückliche Verkettungen sei es bei dem Menschen zu einer Extremhandlung gekommen, zu einer Wiederholung des in den Jahren des Krieges zwangsweise Erlernten. Doch die Richtermenschen hatten dem nicht folgen wollen und sich gezwungen gefühlt, die Entmenschung - Strafe genannt - zu verhängen.

Um den Menschen nach 17jähriger Haft in der Todeszelle gesetzlich zu entmenschen, wurde der Mensch von Hilfsmenschen in den dafür von Ingenieurmenschen geschaffenen Entmenschungsraum geschoben - festgeschnallt auf einer Entmenschungsbahre. Dem Menschen wurde ein aus drei Substanzen gemixtes Gift von Medizinmenschen in seine Venen gespritzt. Eine viertel Stunde später war er nicht mehr Mensch; der Mensch war tot. In dem eigens von planenden Menschen dafür eingerichteten Beobachtungsraum hatten Beobachtermenschen hinter einer doppelten Glaswand dem Akt der Entmenschung beigewohnt. Während der von denkfähigen Gesetzesmenschen ausgedachten gewaltsamen Gifteinflößung in den fest angebundenen Körper des verurteilten Menschen hatten einige der anwesenden Menschen ihrerseits herausragende Wichtigkeit empfunden. Die von Menschen ausgeklügelte Verrichtung des Aktes der Entmenschung unter Beiwohnung von Menschen war ein Medienereignis.

Rasch nachdem der Tod des Menschen durch seine Mitmenschen geschaffen war, ging die Nachricht der Entmenschung des Menschen um die Welt. Alle Menschen konnten sehen, hören oder lesen, wie Menschen mit der Regelung der Entmenschung ihren eigenen Wert auf schwer wiegende Weise herabsetzten und ihre Würde und Selbstachtung kompromittierten. Einige dabei gewesene Menschen lobten, dass der Mensch bei der gewaltsamen Gifteinspritzung gefasst gewesen sei. Für diese Menschen schien dies von Wert zu sein. Andere Menschen berichteten, der gesetzlich vergiftete Mensch habe irgendwie resigniert geschienen. Ein trauriger Mensch, die Schwiegertochter, sagte unter Tränen, dass der Mensch ein sehr sanfter Mensch mit einem guten Herzen war.   

Der Mensch hatte noch vor seinem Tod mit seinen beiden Söhnen, inzwischen gereiften Menschen, gesprochen. Ihnen war der Mensch vor seiner Tat ein sorgender, menschlicher Vater gewesen. Diesen Menschen fügte die schwere Last des von Menschen behördlich verwalteten Entmenschungsverfahrens allerschlimmste Pein zu.

In einem letzten Interview sagte der Mensch, er wolle nicht, dass seine Person über der Tatsache vergessen werde, dass es sich um die 1000. Hinrichtung seit Einführung der Todesstrafe handle. „Ich hasse es, nur eine Nummer zu sein. Ich bin ein Mensch, keine Statistik“.

Vor dem Gefängnis mit dem Entmenschungsraum hatten in der Düsternis der Entmenschungsnacht mehrere hundert Menschen für sich die unbedingte Notwendigkeit gesehen, ihre Ablehnung der Entmenschung zumindest durch ihre Anwesenheit kundzutun. Sechzehn Menschen wurden arrestiert. „Die 1000. Exekution ist ein Meilenstein - ein Meilenstein, für den wir Menschen uns alle schämen sollten“, sagten sie. Die Menschen erklärten, dass es nicht nur das Lebensrecht des so genannten guten Menschen gebe, und dass Menschen sich keineswegs das Recht anmaßen dürften, die Auslöschung eines Mitmenschen zu bestimmen. Zudem fügten todesstrafsüchtige Menschen sich selbst, nicht nur ihrem Opfer, schwerwiegenden Schaden zu, wenn sie ihre Mitmenschen durch angekündigte Entmenschungstermine erbarmungslos folterten und geschäftsmäßig die Entmenschung von Menschen durchführten. Der Skandal sei himmelschreiend, dass Menschen sich per Gesetz das perverse Ermorden eines Menschen genehmigten. Dies zeuge von dem Bedürfnis so genannter ehrbarer Menschen, legal ihrer barbarischen Mordlust zu frönen.

Ein Menschenregent und Chefsortierer nach „Gut“ und „Böse“, ein alkoholfrei Wiedergeborener, ein Mensch, der bei Nüchternheit Qualen und Tode unschuldiger Menschen für seine Kriegssache in Kauf nahm, sagte nach der tausendsten Entmenschung, dass er die Todesstrafe „stark unterstütze“. Sie helfe, „unschuldige Menschenleben zu retten“. Wenn die Todesstrafe „fair und rasch“ vollstreckt werde, könne sie zur Abschreckung anderer Menschen beitragen.

Elf Tage später gab es eine weitere tödliche Entmenschung des Menschen mit Voransage. Die qualvolle Vergiftungsprozedur im amtlichen Vergiftungsraum dauerte 35 Minuten. Der angeschnallte Mensch behielt während der Zwangsveranstaltung seine Brille auf und hob immer wieder den unangeschnallten Kopf. Der Todeskampf des Menschen sei dramatisch gewesen. Beim Gifttod habe sich der Bauch des Menschen stark verkrampft. Hinter einer doppelten Glaswand hatten dies nicht wenige Menschen miterlebt und später bezeugt. Die Beobachtermenschen waren beim herzzerreißenden Anblick des von seinen Mitmenschen ins Sterben gezwungenen Menschen nicht weggerannt. Kein Mensch hatte an die Glaswand getrommelt, um dem staatlich organisierten Mord am Menschen Einhalt zu gebieten. Keiner der unter dem Entmenschungsdrama leidenden Menschen sah eine Möglichkeit, gegen das von denkfähigen Menschen erbarmungslos installierte Entmenschungsgesetz anzurennen. Also wurde eine Menschenleiche starr nach Menschenplan durch Menschen geschaffen, der leblose Menschenleib ordnungsgemäß von Menschen weggeräumt und der technisch perfektionierte Entmenschungsraum penibel durch Menschen gereinigt. Viele Menschen verdienten an der Entmenschung Geld.

Ein Regierungsmensch, dem die Macht gegeben war, Entmenschungstermine abzublasen, hatte nach reiflicher Überlegung die Tötung des Menschen befürwortet. Denn der verurteilte Mensch, der vier Morde, die ihm angelastet worden waren, stets abgestritten hatte, hätte sich nie für diese Morde entschuldigt. Dies könne nicht hingenommen werden. Der Mensch mit Begnadigungsbefugnis fand für seine ablehnende Entscheidung beachtlichen Applaus und genießt weiterhin sein geachtetes, eitles Leben.   

Es war nicht die letzte vorsätzliche Entmenschung dieser Art. Denn das fortlaufende tödliche Menschenvergiften ist der demokratische Beschluss einer Vielzahl von Menschen. Den grausamen Tod für Menschen zu wollen, ist grausame Menschenart.

Runwalt, Dez. 2005



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