Die Rede! Der oberste Regierungsmensch des so genannten Landes der Menschenrechte wird eine wichtige Rede halten. Immer wieder wurde sie von seinen Skriptmenschen um- oder neu geschrieben, damit sie auf die große Masse der Menschen wirke. 22 Entwürfe landeten im Reißwolf. Viele Male, am Freitag-, Sonntag- und Montagmorgen übte der oberste Regierungsmensch wie ein Schauspielermensch seinen Auftritt. Andere wichtige Dinge, die die Welt betreffen, wurden hinten angestellt. 38 Minuten eingeübter Optimismus sollen helfen, Jahre voller Verfehlungen und Missgriffe vergessen zu machen. Zuversicht möchte der oberste Regierungsmensch ausstrahlen, patriotische Gefühle wecken, allgemeinen Beifall erheischen. Text, Modulation, Gestik, aber auch Maske, Hintergrund und Ausleuchtung - alles soll unter höchstem Einsatz professioneller Beratermenschen optimal sein. Vor einer elitären Menschenschar wird der oberste Regierungsmensch referieren. Millionen Menschen werden seine Worte am Radio und Fernseher verfolgen. Sein Ansehen und seine Beliebtheit, die auf dem Tiefpunkt sind, sollen steigen; denn die Zustimmungsrate der Wählermenschen ist zu niedrig. „Im Großen und Ganzen sind die Menschen nicht glücklich“, sagt ein Meinungsforschermensch. „Sie sind frustriert, sie wollen die jungen Militärmenschen zurückkehren sehen, und sie glauben angesichts der vielen Skandale, dass sich die Regierungsmenschen mehr um das eigene Wohl als um das der Wählermenschen scheren.“ Der oberste Regierungsmensch ahnt: Er wird es schwer haben, verlorenes, medial gewonnenes Vertrauen der Wählermenschen in seine Führungskraft zurück zu gewinnen. So wird auch Nummer 23 seiner Rede Änderungen durch servile Intellektmenschen erfahren müssen. Bis zuletzt will er auf aktuelle Entwicklungen reagieren lassen und seine Mimik und Gestik während der Rede passend dazu einstellen. In Vorabinterviews kündigte er bereits an, er wolle eine „optimistische Agenda“ verkünden, gar von einer „Vision“ war die Rede. Die Verantwortung seines Landes für den Frieden und die Freiheit in der Welt werde er betonen. Er beabsichtige, Dinge zu sagen, bei denen er sich der Unterstützung der Wählermenschen sicher sein könne. Er habe vor, sein Vorgehen zu verteidigen und auch an die anderen Regierungsmenschen zu appellieren. „Ich stimme mit den Menschen überein, die ein ökonomisches Problem und ein Problem der nationalen Sicherheit sehen.“ Der Redetext des obersten Regierungsmenschen und auch der kontrollierte Vortrag werden keine Überraschungen bieten, die Botschaften positiv, die Probleme runter gewortet sein. Für den Massenkonsum wird die Rede einen gefälligen Charakter haben; der Sprung aus dem Umfragetief soll ohne revolutionäre Ideen gelingen. Hatte der oberste Regierungsmensch früher Visionen einer befreiten Welt beschworen, stehen diesmal Durchhalteparolen im Script. Denn angesichts der anstehenden Wahlen von Regierungsmenschen ist kein Platz für Experimente. Das perfekt inszenierte Gemeinschaftswerk des obersten Regierungsmenschen und seiner servilen Intellektmenschen soll über die Medien in die ganze Welt gebracht werden. * Bei der Rede läuft alles wie geplant und eingeübt. Millionen Menschen sitzen zur besten Sendezeit vor ihren Fernsehern und schauen sich die große Nummer an. Viele essen dabei Snacks und trinken Bier. Immer wieder beschwört der oberste Regierungsmensch eine neue Ehrlichkeit von Politikern: „Wenn so viel auf dem Spiel steht, haben wir als Mandatsträgermenschen die Pflicht mit Aufrichtigkeit zu sprechen.“ Diese Worte stehen im Zentrum seiner Rede. Das Land brauche Durchbrüche bei Technologien, die dabei helfen könnten, wirtschaftlich unabhängig zu werden. Denn das Land sei „süchtig nach Öl, das oft aus instabilen Teilen der Welt importiert wird.“ Auch müssten Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaften ausgebildet und Mathematiker und Wissenschaftler aufgefordert werden, in den Schulen zu arbeiten. Das Land müsse seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Die Wirtschaft des Landes sei überragend, „aber wir können es uns nicht leisten, selbstzufrieden zu sein.“ In einer dynamischen Weltwirtschaft gebe es neue Wettbewerber. Wiederholt unterstreicht der oberste Regierungsmensch seinen weltweiten Führungsanspruch, vergessen machend, dass dieser demokratisch nicht legitimiert ist. Sein Land werde sich, laut oberstem Regierungsmensch, weiterhin „offensiv für die Verbreitung von Freiheit und Demokratie auf der Welt einsetzen.“ „Unsere Nation ist einem historischen, langfristigen Ziel verpflichtet: Wir streben das Ende der Tyrannei in unserer Welt an.“ Dies sei kein „fehlgeleiteter“ Idealismus. Von der „Verbreitung der Freiheit“ hänge auch die „Sicherheit“ des Landes ab. Dies werde der Versuchung der Isolation widerstehen und offensiv seine Interessen vertreten. „Wir müssen wählen, entweder selbstbewusst die Feinde der Freiheit zu verfolgen oder uns unseren Pflichten zu entziehen, in der Hoffnung auf ein leichteres Leben.“ Das Land habe den Anspruch und das Recht, zur Durchsetzung seiner Interessen überall auf der Welt einzugreifen. Die Gemeinschaft der Menschen des Landes „werde sich nicht aus der Welt zurückziehen, und wir werden niemals vor den Bösen kapitulieren.“ Der oberste Regierungsmensch begründet diesen Anspruch mit den sicherheitspolitischen Interessen seines Landes: „Sicherheit können wir nicht erreichen, indem wir unser Engagement aufgeben und uns hinter unsere Grenzen zurückziehen. Wenn wir diese üblen Angreifer in Ruhe lassen, werden sie uns nicht in Ruhe lassen.“ Der oberste Regierungsmensch fordert den offensiven Kampf. Totalitäre Kräfte wollten das Land und die Welt angreifen. Er räumt ein, dass sich die Besatzermenschen seines Landes derzeit in einer „schwierigen“ Situation befänden, „weil unser Feind brutal vorgeht.“ Doch die Menschen seines Landes müssten durchhalten. „Wir führen diesen Kampf, um ihn zu gewinnen, und wir gewinnen ihn.“ Der oberste Regierungsmensch appelliert an die patriotische Gesinnung seiner Gegner unter den anderen Regierungsmenschen: „Unsere Nation hat nur eine Wahl: Wir müssen unser Wort halten, unseren Feind besiegen und hinter den Militärmenschen unseres Landes stehen.“ „Es liegt kein Frieden im Rückzug. Und Rückzug ist keine Ehre.“ Der oberste Regierungsmensch brandmarkt in seiner Rede mehrere Länder, in denen die Freiheit unterdrückt werde. Kurz vor dem Redeauftritt des obersten Regierungsmenschen wird ein Kritikermensch von der Polizei festgenommen. Es handelt sich um einen zutiefst trauernden Menschen, eine Soldatenmutter. Ihr über alles geliebter Sohn war einer unter den Menschen, die in Kriegen getötet wurden, die der oberste Regierungsmensch angeordnet hatte. Als Leitfigur der Kriegsgegner war sie von gegnerischen Regierungsmenschen, die einen Abzug der Militärmenschen wünschten, als Gast eingeladen worden. Die Rede des obersten Regierungsmenschen wollte sie auf der Zuschauertribüne in einem T-Shirt mit Anti-Kriegs-Aufdruck verfolgen. Doch dies wurde ihr nicht erlaubt. Die Rede des höchsten Regierungsmenschen soll die schwächste seiner Amtszeit gewesen sein, lästert im Nachhinein ein gegnerischer Regierungsmensch. Doch die große Mehrzahl der Zuschauermenschen am Fernseher findet die Rede „sehr positiv“. Das ist sie auch: Die Umwandlung des Landes der Menschenrechte in einen Unrechts- und Folterstaat kommt nicht vor in der penibel eingeübten Rede. Runwalt, Februar 2006 © 2006 Runwalt |